Menschen im Abseits der Gesellschaft – Sport in der JVA Essen

von David Marx

Es ist Montagmorgen eine hellblaue, dicke Stahltüre öffnet sich. Als ich durch die Tür gehe, betrete ich eine für mich bis dahin fremde Welt. Es ist die Welt der Justizvollzugsanstalt Essen. Die meisten die hierherkommen sind im Gegensatz zu mir nicht freiwillig hier. Die JVA Essen ist zuständig für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen von bis zu 30 Monaten und hat Kapazitäten für circa 530 Gefangene. Ungefähr ein Drittel der Inhaftierten sind Untersuchungshäftlinge. Dementsprechend sind potenziell alle möglichen Straftaten hier vertreten – vom Kleinkriminellen bis hin zum Mörder. Sobald ein Untersuchungshäftling ein höheres Strafmaß als 30 Monate erhält, wird dieser in eine andere Anstalt verlegt.

Doch ich bin nicht gekommen, um mich mit den Taten der Gefangenen zu beschäftigen und mir ein Urteil darüber zu bilden. Ich möchte einen anderen Aspekt des Justizvollzugsalltags erleben und über diesen berichten. Da ich selbst leidenschaftlicher Sportler bin und mir ein Leben ohne Sport nicht vorstellen kann, möchte ich der Frage auf den Grund gehen, welche Bedeutung der Sport in einer JVA hat. Zwei Tage lang werde ich die Sportbeamten hier begleiten, am Sport teilnehmen und viele Gespräche führen – und so viel vorab – mit einer überraschenden Erkenntnis hier heraus gehen.

Nach einer gründlichen Sicherheitskontrolle werde ich gebeten im Warteraum der JVA Platz zu nehmen. Mein Onkel (Michael Lucka) ist evangelischer Gefängnispfarrer in Essen und holt mich im Warteraum ab. Es ist merkwürdig eine so vertraute Person, in einem so fremden Umfeld zu treffen. In seinem Büro angekommen, findet ein kurzes informierendes Gespräch mit dem Pressesprecher der JVA (Marc Marin) über sicherheitsrelevantes Fotografieren und Verhalten statt. Schlösser und Überwachungskameras dürfen nicht fotografiert werden. Diese Fotos könnten für mögliche Fluchtpläne verwendet werden.

Es geht weiter vom Verwaltungstrakt in den Gefangenentrakt. Das Hafthaus erinnert an amerikanische Gefängnisfilme – ein langer Gang, drei Etagen, links und rechts Zelle an Zelle.

Insasse oder Beamter?

In der obersten Etage angekommen befindet sich der Kraftsportraum der JVA.  Hier begrüßt mich ein junger Mann im Trainingsanzug. Ich bin kurz irritiert und bin mir nicht sicher ob der sportlich aussehende Mann ein Häftling, oder doch einer der Beamten ist. „Ich bin Sebastian, einer der Sportbeamten“, stellt er sich vor.

Der Kraftsportraum der JVA Essen

Die erste Erkenntnis: Die Sportbeamten der JVA tragen keine Uniform, sondern Sportklamotten, so wie die Insassen der Sportgruppe.

Sebastian ist einer von vier Sportbediensteten in Essen. Gerade beaufsichtigt er eine Gruppe von 13 Gefangenen, die Kraftsport machen. Um am Sportangebot teilzunehmen, muss ein Inhaftierter einen Antrag stellen und angeben an welcher Sportart er teilnehmen möchte. In der JVA Essen werden unter anderem Fußball, Kraftsport, Volleyball, Tischtennis und Badminton angeboten. Ist in einer der Gruppen ein Platz frei, bekommt der Insasse eine sogenannte Sportkarte, die ihn dazu berechtigt eine Stunde pro Tag, zu einer festgelegten Zeit, Sport zu treiben. Es gibt klare Regeln beim Sport, so Sebastian: „Wenn wir merken ein Gefangener kommt nur zum Sport, um zu quatschen und keinen Sport zu machen, wird dieser ermahnt. Beim nächsten Mal fliegt er raus, muss einen neuen Antrag stellen und kommt auf die Warteliste. Wenn hier einer Unruhe reinbringt und Stress anfängt, fliegt er auch raus. Aber die meisten hier halten sich an die Regeln, denen ist der Sport zu wichtig.“  Zwei Insassen kommen zu Sebastian: „Sebastian, hier der Kollege kann Fußball spielen“, sagt ein großer und durchtrainierter Insasse über den anderen. „Dann komm‘ um 13 Uhr vorbei und dann kannst du mal mitspielen“, antwortet Sebastian. Wenn ein Platz in einer Sportgruppe frei ist, weil ein anderer Häftling verhindert ist, zum Beispiel durch einen Gerichtstermin, kann es auch schon mal unbürokratisch zugehen und ein anderer Insasse darf einspringen.

Die zweite Erkenntnis: Die Sportbeamten und Inhaftierten duzen sich. „Im Sport kann man sich nicht siezen, das ist einfach komisch. Außerdem haben wir so ein spezielles Verhältnis zu den Häftlingen, wir sind näher dran. Dennoch ist es immer wichtig eine gewisse Distanz zu wahren,“ erklärt Sebastian. Um 11:30 Uhr ist Schluss für die Gruppe, die Gewichte und Hanteln werden weggeräumt und die Gefangenen gehen duschen. Der Raum wirkt aufgeräumter als so manches Fitnessstudio. Nach dem Training spreche ich mit Andy, ein durchtrainierter Mann, der in Essen seine Strafe absitzt. Er erzählt wie wichtig ihm der Sport ist, um den Alltag erträglicher zu machen und Druck abzulassen.  Außerdem sei der Sport für das Verhältnis zu den anderen Insassen und auch zu den Beamten sehr wichtig.

Zwei Gefangene beim Kraftsport

Von 11:30 Uhr bis 12:45 Uhr ist Einzelsport vorgesehen. Zu dieser Zeit kann ein Gefangener allein trainieren, der entweder nicht gemeinschaftsfähig ist, oder vor anderen Häftlingen geschützt werden muss. Heute kommt niemand zum Einzelsport.

Sebastian hat kurz Zeit und zeigt mir das Büro der Beamten. Darin ein kleiner runder Tisch in der Mitte des Raums, ein Poster des Fußballvereins Rot-Weiß Essen und ein Aquarium. Auf den Schränken stehen unzählige Pokale. Die JVA Essen war in den vergangenen Jahren mehrfacher Fußball-Landesmeister der Justizvollzugsbeamten.  Einmal im Jahr findet ein Turnier statt in dem die Beamten gegen andere Justizvollzugsanstalten aus NRW spielen. Ausrichter ist immer die Gewinnermannschaft aus dem Vorjahr.
Die Sportbeamten sind nicht nur für den Sport der Gefangenen zuständig, sondern auch für das sogenannte Deeskalations- und Sicherungstraining (DST). Bei diesem Training werden die anderen Justizvollzugsbeamten in Selbstverteidigung geschult und lernen wie sie sich aus gefährlichen Situationen retten können. Ein bärtiger Mann mit Glatze betritt das Büro der Sportbeamten. Er ist breit gebaut und groß. Auf seinem Unterarm befindet sich ein kleines Schalke 04 Tattoo.  „Hi ich bin Marcel, und bin hier Sportbeamter,“ stellt er sich mit einem breiten Lächeln vor. Marcel war mehrfacher Teilnehmer an Europameisterschaften im Kickboxen und wird heute das DST leiten, an dem ich ebenfalls teilnehmen werde. Das Verhältnis der Kollegen wirkt locker, es wird gescherzt und gelacht. Keine Spur vom vermeintlich grauen Gefängnisalltag im Büro der Beamten. Um 12:30 Uhr ist Mittagspause, in der Kantine für die Mitarbeiter der JVA gibt es heute Kartoffeleintopf mit Mettwürstchen, zubereitet von den Insassen, die in der Küche arbeiten. Das Essen schmeckt besser als erwartet.
Ab 13:00 Uhr beginnt das DST mit den Beamten. Box und Grifftechniken werden geübt, außerdem mögliche Szenarien besprochen in denen Beamte von Gefangenen angegriffen werden. „Auf alles kann man sich leider nie vorbereiten, aber wir versuchen das Bestmögliche“, erklärt Marcel mit ernster Stimme. Den Beamten steht auch eine Übungszelle zur Verfügung, mit der mögliche Gefahrenszenarien geübt werden können. Nach eineinhalb Stunden und einigen vergossenen Schweißtropfen ist das Training beendet.  Viel Zeit zum Verschnaufen bleibt jedoch nicht.

Boxtraining mit den Beamten als Teil des Deeskalations- und Sicherheitstrainings
Sportbeamter Marcel führt Grifftechniken vor
Übungszelle für mögliche Szenarien auf den Zellen

Fairer als die Kreisliga

Von 15:00 Uhr bis 16:30 Uhr leitet Marcel eine Fußballgruppe in der Häftlinge spielen, vorher muss vom Beamten kontrolliert werden ob jeder der Teilnehmer eine Sportkarte besitzt. Dann gehen wir gemeinsam in die Sporthalle, gespielt wird sechs gegen sechs, ich spiele mit. Das Spiel läuft fairer als so manches Kreisligaspiel ab, und für einen Moment vergisst man im Gefängnis zu sein. Es wird gerannt, gekämpft und gejubelt – alles so wie draußen. Als ich einem Häftling im Zweikampf aus Versehen vor das Schienbein trete und mich dafür entschuldige, sagt dieser „kein Problem, passiert. Außerdem sind wir keine Memmen.“ Auch der Sportbeamte Marcel spielt mit und motiviert sein Team, welches zurück liegt. Er ist mit vollem Einsatz dabei. Der 110 Kilo schwere Kampfsportler rennt sich die Seele aus dem Leib. Nach dem Spiel klatschen sich alle ab, die Gefangenen gehen duschen und danach geht es für sie zurück in die Zellen.

Fußballspiel in der anstaltseigenen Sporthalle
Eine der Fußballgruppen in der JVA (2.v.r. Sportbeamter Marcel, ganz rechts ich)

Zurück im Büro der Sportbeamten sagt Marcel, der schon 20 Jahre in der JVA Essen arbeitet, dass er sich nicht für die Taten der Gefangenen interessiert. „Ich gucke mir nicht an, was die Leute gemacht haben. Dafür sehe ich keinen Grund. Ich möchte hier alle gleich behandeln und dafür ist es besser, dass ich nicht weiß wer hier was verbrochen hat.“ Als ich ihn zum lockeren Umgang mit den Gefangenen frage sagt er: „Der Grad ist immer ein schmaler zwischen zu locker und zu ernst. Aber das kommt mit der Erfahrung, die meisten Gefangenen halten sich hier an die Regeln und wollen keinen Ärger. Dennoch darf man nie in einen Alltagstrott verfallen und muss immer wachsam sein.“ Themen wie Familie und Kinder werden mit den Insassen nicht besprochen, da sind sich Sebastian und Marcel einig. Im Kraftsportraum ist jetzt die Abendgruppe der Gefangenen. Einer der Insassen bittet mich ein Foto von ihm zu machen: „Mach‘ mal ein Foto, ich drücke 180 Kilogramm“, kündigt er stolz an. Gesagt – getan. Im Gespräch mit einem Gefangen sagt mir dieser, dass Sport für ihn hier das Allerwichtigste ist. „Hier kann man den Kopf frei kriegen, sonst geht man kaputt.“

Als ich am Abend das Gefängnis verlasse und wieder in Freiheit bin, ohne dicke Mauern, Stacheldraht und Schweißgeruch im Fitnessraum, habe ich mich noch nie so sehr damit beschäftigt wie schön es ist in Freiheit zu sein.

Falsche Erwartungen

Am nächsten Tag das gleiche Procedere: erst durch die Einlasskontrolle, dann hoch zum Kraftsportraum und den Sportbeamten. Marcel begrüßt mich, als ob wir uns schon Jahre kennen. Ob es die freundliche Pott-Mentalität, oder einfach seine gute Laune ist – ich weiß es nicht. Dann lerne ich Uwe kennen, ebenfalls Sportbeamter und Sport- und Freizeitkoordinator der JVA Essen. Uwe arbeitet seit 35 Jahren in der JVA Essen und strahlt eine sehr ruhige und souveräne Art aus. Auch er bestätigt mir, wie wichtig der Sport für die Insassen und auch für die Beamten ist. „Je mehr Gefangene beim Sport sind, desto ruhiger ist es für die Kollegen in den Abteilungen. Hier können die Gefangenen Druck ablassen.“ Marcel und Uwe erzählen, dass sie durch den Sport einen besonderen Draht zu den Gefangenen entwickeln. „Die heulen auch schon mal öfters hier bei uns, wenn es einem nicht gut geht. Das ist schon eine Art Seelsorge, die wir hier auch machen,“ so Marcel. „Das ist ganz wichtig hier für die Resozialisierung, die Leute lernen hier in unterschiedlichen Gruppen miteinander klar zu kommen“, ergänzt Uwe.

Um 11:30 Uhr ist wieder ein Zeitfenster für Einzelsport vorgesehen. Doch auch heute kommt niemand. Der restliche Tag verläuft ruhig, heute gibt es kein DST und um 15:00 Uhr gibt es eine Volleyballgruppe für die Gefangenen. Als ich am Nachmittag die JVA verlasse, wird mir bewusst wie falsch meine Erwartungen waren. Ich dachte ich treffe auf harte Knastis, die aggressiv werden, wenn man sie foult. Stattdessen bin ich auf ausschließlich freundliche und sehr faire Insassen getroffen. Natürlich habe ich nur einen kleinen Ausschnitt der Gefangenen erlebt und sie haben alle Straftaten begangen und sind deswegen in der JVA (ausgenommen sind Untersuchungshäftlinge, die bis zu ihrer Verurteilung als unschuldig gelten). Dennoch steckt auch in diesen vermeintlich harten Kerlen oft noch ein kleines Kind, welches sich riesig freut, wenn es ein Tor schießt. Der Sport in der JVA Essen ist eine Möglichkeit für die Insassen den Alltag für eine kurze Zeit zu vergessen. Während des Sports spielen Nationalität, Religion, Insasse oder Beamter keine Rolle. Im Sport sind alle gleich. Auch meine Erwartungen an die Beamten waren falsch. Ich erwartete sehr strenge und autoritäre Typen, und traf auf sehr herzliche und empathische Menschen.

Als ich die dicke blaue Stahltür das letzte Mal hinter mir schließe und die JVA verlasse, freue ich mich schon auf meine nächste Sporteinheit – diesmal unter freiem Himmel und in Freiheit.

Wer noch mehr über den Sport und das Leben in der JVA Essen erfahren will, sollte sich die zwei Podcasts anhören. Ein Gespräch ist mit zwei Sportbeamten, das andere mit einem Insassen der JVA.