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Alleingelassen – 365 Tage im Jahr

von Benita Blischke, Patricia Hilger, Giuliana Mocerino

Text 3:30 Minuten / Video 6 Minuten / Audio 2:30 Minuten

Sie sind da, immer, auch wenn es uns nicht jederzeit bewusst ist. Nicht nur in der Corona-Krise kämpfen hilfsbedürftige Menschen damit, ihren Alltag zu meistern. 365 Tage im Jahr hoffen sie auf Unterstützung. Egal ob jung, alt, körperlich oder geistig eingeschränkt.

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Deutsches Grundgesetz, Artikel 3

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“, so steht es in Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes. Für Menschen mit Behinderung gibt es eine Vielzahl von Hilfen und Unterstützung. Zumeist übernehmen die Angehörigen selbst oder Mitarbeiter eines ambulanten Pflegedienstes die Pflege. Einen Überblick zu bekommen ist für alle Beteiligten schwierig. Aber wie viel Unterstützung bekommen sie tatsächlich? Wie viel Hilfe brauchen sie? Und vor allem, von wem erhalten sie diese Unterstützungen?

Eine Multimedia-Reportage über die Menschen, die nicht nur in der Corona-Krise häufig alleine gelassen werden.

Von Caritas bis Lebenshilfe: Welche Unterstützungen gibt es wirklich?

Medizinische Rehabilitation, Arbeitsleben, Leben in der Gemeinschaft. Dies sind die Leistungen der Teilhabe, die durch verschiedene ehrenamtliche Institutionen gewährleistet werden sollen.

Die Caritas, als eine dieser Organisationen berät Betroffene und ihre Angehörigen in verschiedenen Themen, wie wohnen, Freizeit, arbeiten oder Veranstaltungen und leitet diese an die zuständigen Ansprechpartner weiter. Neben der Grund- und Behandlungspflege bieten sie unter anderem verschiedene Mobile Soziale Dienste an. Dazu gehören Dinge, wie eine umfassende hauswirtschaftliche Betreuung (Reinigung der Wohnung, waschen, bügeln, einkaufen, kochen), Betreuungsdienste, als stundenweise Entlastung für die Angehörigen oder der Mahlzeitenlieferdienst.

Auch die Lebenshilfe bietet Beratung für Menschen mit Behinderung und deren Angehörige. Auf ihrer Webseite, die ähnlich wie die der Caritas teilweise in sogenannter „Leichter Sprache“ angeboten wird, finden sich neben Informationen zum Krankenhausaufenthalt, rechtlichen Infos oder Angeboten für Geschwister, auch Informationen über das Corona-Virus. Die Lebenshilfe verlinkt zu verschiedenen Arbeitgebern und Behinderten-Werkstätten. Ihr Ziel ist es, Unterstützer und Ansprechpartner im Alltag zu sein, sowohl für die Betroffenen als auch für die Angehörigen.

Neben der Lebenshilfe und der Caritas gibt es noch einige weitere Einrichtungen, wie beispielsweise die Diakonie oder den Bundesverband für Körper- und mehrfachbehinderte Menschen, sowie verschiedene kleinere regionale Verbände. Alle bieten Beratung zu fast allen Lebenslagen und haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Lebensqualität der Menschen zu verbessern und diese zu begleiten, zu unterstützen und zu fördern.

Die Vielzahl der zuständigen Stellen und verfügbaren Hilfen ermöglichen jedoch nicht automatisch ein selbstbestimmtes Leben. Menschen mit einer Behinderung müssen sich vieles noch hart erkämpfen.

Bereits im Jahr 2009 verpflichtete sich die Bundesrepublik zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, um behinderten Menschen die Teilhabe in allen Lebensbereichen zu zusichern. Die Realität jedoch ist eine andere. Mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze in einem Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten müssen mit Menschen mit einer Behinderung besetzt werden. In Deutschland ist es jedoch legal, eine Ausgleichsabgabe von 125-130 Euro monatlich zu zahlen, anstatt Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Die Mehrheit der Arbeitgeber in Deutschland zieht diese Abgabe vor.


Die Betroffenen

Janina Hilger ist 30 Jahre alt. Auf den ersten Blick merkt man ihr ihre Behinderung gar nicht an. Trotzdem hat sie einen Schwerbehinderten-Ausweis mit einer Einschränkung von über 50%. Erst wenn man sie näher betrachtet, fällt auf, dass sie ihrem Alter nicht entspricht. Mit alltäglichen und ihr bekannten Situationen kommt sie gut klar, doch wenn es einmal Abweichungen im Alltag gibt, gerät sie schnell in Panik. Janina hat einen ausgegliederten Arbeitsplatz über den Caritasverband. Sie arbeitet seit einigen Jahren in einem Supermarkt in der Stadt. Diesen Beruf kann sie durch die geregelten Abläufe gut meistern. Sie arbeitet so viel wie eine vollwertige Arbeitskraft, bekommt aber nur einen Bruchteil des normalen Gehalts.

Im Video erzählt Janina ihre Geschichte:

https://youtu.be/DXuEy575nvY

Niemand hat mir irgendetwas gesagt!

Rita Hilger – Mutter der Betroffenen

Auch mit Janinas Mutter, Rita Hilger, haben wir über die Behinderung ihrer Tochter gesprochen. Sie erzählt im Video, wie sie das Leben ihrer Tochter erlebt hat und was für Schwierigkeiten sie überwinden musste.

https://youtu.be/1erGSQI1ZlA

Alleingelassen: Auch in der Corona-Krise?

Die aktuelle Corona-Pandemie hat die ganze Welt überrollt und bereits viele Opfer gefordert. Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen gehören zur Risikogruppe. Diese zu schützen bedeutet aber gleichzeitig: Keine Betreuungen, keine Therapien und auch sämtliche Unterstützungen für Förderkinder fallen weg. Die Familien müssen auf Notbetreuung zurückgreifen und diese gibt es nur in geringem Umfang. Vereinzelt finden zwar Online Betreuungen statt, diese sind jedoch schwer zu organisieren und für die Betroffenen oft nicht die Lösung. Der Alltag für Viele ändert sich vehement und das mit negativen Folgen. Gerade Menschen mit Behinderung benötigen einen geregelten Tagesablauf, der jedoch durch die Corona-Einschränkungen durcheinandergerät. Hilfe von der Politik kommt zwar, aber viel zu spät. In der Corona-Krise macht die Inklusion wieder einen Schritt zurück. Zwar sind einige Förderschulen seit Ende Mai wieder geöffnet, jedoch können die meisten Kinder mit Beeinträchtigungen durchschnittlich nur einen Tag in der Woche zur Betreuung gehen. Solange die Corona-Situation andauert, bleiben Kinder mit Handicap und ihre Eltern weiter auf sich alleine gestellt. Eine Studie des Inclusion Technology Lab und des Frauenhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik zeigt, dass sich gerade Eltern von Kindern mit Behinderung aktuell doppelt überfordert fühlen.

Nach Corona muss ich in die Therapie!

Fatma Hügül – Mutter eines Betroffenen

Fatma Hügül ist die Mutter von Mehmet – Ein 10-jähriger Junge mit einer starken geistigen Behinderung. Sprechen kann er nicht und auch andere alltägliche Dinge, wie Schuhe anziehen oder sich zu waschen, schafft er nicht ohne Hilfe. Dadurch ist er durchgehend auf Unterstützung angewiesen – zum Leidwesen seiner Mutter. Mit einer einjährigen Tochter und einem Hund hat sie sowieso schon alle Hände voll zu tun. Ihr Mann ist die Hälfte des Tages arbeiten und sie somit alleine. Während der Corona-Krise hat sie nach Monaten voller Verzweiflung und Überforderung endlich Hilfe von der Lebenshilfe bekommen. Drei bis vier Mal in der Woche kommt eine ehrenamtliche Betreuerin der Hilfsorganisation und kümmert sich in Form des „FamilienUnterstützenden Dienstes“ einige Stunden um Mehmet.

Im Interview erzählt Fatma Hügül, wie es ihr während der Corona-Krise ergeht und wo sie auch sonst dringend Hilfe braucht:

Interview mit der Mutter eines behinderten Kindes

Und was bringt die Zukunft?

Es gibt noch viele Lücken und Hürden, die überwunden werden müssen, um eine vollwertige Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft zu garantieren. Gerade in der Corona-Pandemie sieht man was alles falsch läuft und wo es starken Änderungsbedarf gibt. Viele Familien fühlen sich allein gelassen und überfordert. Die meisten wissen nicht einmal, dass es den „FamilienUnterstützenden Dienst“ gibt und kämpfen sich so alleine durch die Krise. Auch außerhalb der Pandemie sieht es in vielen Familien, durch die benötigte intensive Betreuung, nicht anders aus.

Was wird die Zukunft bringen? Wird es mehr und vor allem gerechtere Unterstützung geben? Wird die Gesellschaft aufwachen und die Missstände erkennen? Wird die Inklusion der Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft in Zukunft einfacher? Die Antworten lassen sich hoffentlich bald finden…

Und bis dahin werden hilfsbedürftige Menschen weiterhin alleingelassen.

365 Tage im Jahr.

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