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Vom Ausnahme- zum Normalzustand

Wenn das No-Go plötzlich gesellschaftsfähig wird

Theresa Klöckner, Clara Bosten, Luca Kirchhoff, Carolina Bosch
Lesezeit: 6 Minuten

Die Mund- und Nasenmaske ist für viele Menschen im Handel bereits zur Routine geworden. Foto: Bosch

„Normal ist immer das, woran ihr gewohnt seid. Das alles hier mag euch momentan nicht normal vorkommen, aber in einer Weile wird es das sein. Es wird normal werden.”

„The Handmaid’s Tale – Der Report der Magd”, Hulu

Das Regime in den USA wird gestürzt. Männer übernehmen die Macht und nutzen Frauen in Zeiten der Kinderarmut lediglich als Gebärmaschinen. Eine „neue Normalität” wird konstruiert. Wenn nur lange genug daran festgehalten wird, ist es irgendwann normal.

The Handmaid’s Tale – Der Report der Magd, Staffel 1, Folge 1 // Quelle: Youtube

Eine Auffassung, wie sie in einer der erfolgreichsten Serien der letzten Jahre immer wieder zum Vorschein kommt. In „The Handmaid’s Tale – Der Report der Magd” kämpft die Protagonistin June gegen die Etablierung dieser neuen Normalität. 

Gerade jetzt ist die Frage nach Normalität nicht mehr nur ein Thema der Pop-Kultur. Die Corona-Pandemie hat starken Einfluss auf das gewohnte Verhalten der Weltbevölkerung genommen.

Was ist eigentlich „Normalität”?

Prof. Dr. Michaela Pfadenhauer ist Soziologin an der Universität Wien. Foto: Barbara Mair

Was ist Normalität und wie entsteht sie in unserem Alltag? „Normalität ist etwas so Selbstverständliches, dass wir es uns nicht anders vorstellen können”, erklärt Prof. Dr. Michaela Pfadenhauer, Vorständin des Instituts für Soziologie an der Universität Wien.

Normalität helfe, das soziale Leben miteinander zu regeln und zu vereinfachen, betont Psychologe Dr. Holger Schlageter aus Wiesbaden. „Sie entsteht zunächst unausgesprochen, durch Praxis und Gewöhnung an diese Praxis”, führt er aus. In jeder Gesellschaft entstehe sie automatisch.

Normalität sei der Boden auf dem wir stehen, den wir nicht hinterfragen und einfach so hinnehmen. Würde man diese Normalität hinterfragen, begebe man sich ins Ungewisse und verliere somit das Gefühl von Sicherheit, so Pfadenhauer.

Normalität ist ein fließender Prozess

„Was gestern nicht normal war, kann es heute sein und muss es morgen nicht immer noch sein”, hebt Schlageter hervor.

Gerade die Digitalisierung in Zeiten von Corona sei ein gutes Beispiel für diesen fließenden Prozess der Normalität. Während viele Menschen vor Corona Kommunikations-Tools wie „skype” oder „zoom” kategorisch ablehnten, werden die Vorzüge mittlerweile nicht nur von vielen erlebt und geschätzt, sondern gehören schon zum Alltag. Die Verwendung dieser Werkzeuge ist von Heute auf Morgen also normal geworden. 

Pfadenhauer erklärt, dass auch Kulturzusammenhänge beachtet werden müssen. Unsere Gesellschaft ist daran gewöhnt, sich dauerhaft mit technischen Neuerungen auseinanderzusetzen. Daher fiel es uns so leicht, die Prozesse der Digitalisierung während der Corona-Pandemie so schnell anzunehmen.

Aspekte einer neuen Normalität müssen also dem gewohnten Leben der Gesellschaft bereits stark entsprechen.

Wenn wir uns Neuem aussetzen und Positives geschieht, fällt es uns leichter, Prozesse zu adaptieren, sie als normal zu empfinden und vielleicht sogar willkommen zu heißen, betont Schlageter. 

Meinungen von Passanten aus der Kölner Innenstadt.

Aber woran liegt es, dass Prozesse mit unterschiedlich schneller Geschwindigkeit, oder manchmal sogar gar nicht, als normal angenommen werden? 

Pfadenhauer sieht die Präsenz im Alltag und im Handeln einer Situation als wichtigen Aspekt an. Je mehr Menschen mit der Situation verbunden sind, desto schneller kann sich etwas durchsetzen. 

Während der Corona-Pandemie wurde in kürzester Zeit Verhalten adaptiert, wie beispielsweise Masken tragen und Abstand halten. Die ganze Welt war und ist von der Pandemie betroffen, was dazu geführt hat, dass all diese neuen ungewohnten Verhaltensregeln in kürzester Zeit zur Normalität geworden sind.

Kampf der Ideologien

Schlageter fügt hinzu, dass in unserer individualisierten Welt Machthaber grundsätzlich den Begriff der Normalität festlegen.

Jede mächtige Gruppe will ihren Normalitätsbegriff durchbringen. Am Ende wird sich eine durchsetzen und spricht somit der anderen Gruppe ihre Normalität ab. 

Dr. Holger Schlageter, Psychologe aus Wiesbaden.
Foto: Schlageter

Dieses Phänomen beschreibt Schlageter als „Kampf der Ideologien”. 

Den Begriff Normalität beschreibt er als „der Norm entsprechend”. Wenn Normen von mächtigen Gruppen oder Personen festgelegt werden, sei dies nicht immer das Beste, was einer Gesellschaft passieren kann. 

Schlageter unterstreicht dies mit einem Zitat von Schiller. „Alles Neue schreckt und sei es gut”. Aus evolutionstechnischen Gründen sind wir Menschen Neuem prinzipiell eher misstrauisch gegenüber.

Mit neuen Regeln und Verhaltensweisen wurden wir jetzt auch in der Corona-Pandemie konfrontiert. 

Quasi über Nacht hat sich das Leben auf der Welt verändert. Die Regierungen haben in unsere Freiheit und Normalität eingegriffen. „Das ist so unvorstellbar”, betont Pfadenhauer, „wir fühlen uns wie in einer Ausnahmesituation.”

Zu sehen war das in den vergangenen Wochen durch eine gewisse Spaltung der Gesellschaft: Auf der einen Seite standen diejenigen, die die Corona-Maßnahmen akzeptierten und auf der anderen Seite die Gegner. Das zeigte sich in zahlreichen Demonstrationen gegen den Eingriff in die Freiheitsrechte, wie zum Beispiel die Maskenpflicht.

Die Gefahr der Normalität

Die Diskussion um Normalität findet jedoch auch in anderen Lebensbereichen statt. Denn Normalität bedeutet grundsätzlich, dass es auch eine „Nicht-Normalität” gibt. Da könne es gefährlich werden, sagt Schlageter.

LGBTQ-Lebensformen (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender and Queer Community) beispielsweise werden heutzutage noch nicht überall als normal angesehen und akzeptiert. Wenn wir nach Schlageters Prinzip „Kampf der Ideologien” gehen, stehen christlich-konservative Familienvorstellungen dem gegenüber. 

Lange Zeit wurden Homosexuelle, Bisexuelle und Transgender unterdrückt und ihnen viele Rechte vorenthalten. Auch heute ist dies noch oft der Fall. Da die Anzahl derer, die konservative Familienvorstellungen als normal empfinden, immer noch sehr hoch ist, wird gegensätzlichen Lebensweisen der Begriff der Normalität einfach abgesprochen. 

Hier appelliert Schlageter sowohl an die Güte einer Gesellschaft als auch an ihren humanitären Grad. Diese zeichnen sich vor allem dadurch aus, wie individuell mit unterschiedlichem Normalitätsempfinden umgegangen wird. 

Und auch die Bedeutung des „Nicht-Normalen” kann jederzeit in Normalität umgewandelt werden, um an den fließenden Prozess der Normalität zu erinnern.

Gesellschaftliche Großtraumata

Auch in der Vergangenheit war dieser fließende Prozess von Bedeutung. Denn Corona ist nicht das erste gesellschaftliche Großtrauma, welches die Menschheit erleben muss. 

Es kam bereits zu vielen Pestepidemien im Mittelalter und auch der Dreißigjährige Krieg stellte einen tiefen Einschnitt in die Normalität dar. Natürlich sind diese nicht deckungsgleich, dennoch sind Parallelen sichtbar. 

Nach solchen Ereignissen sind Gesellschaften nachhaltig geprägt und es entstehen Traumata, welche durch Symptome wie Angst, Rückzug und Orientierungslosigkeit sichtbar werden können.

Schlageter betont, dass sich auch aus Traumata für die Zukunft Chancen entwickeln können.

Wie sieht die Zukunft aus?

In der Hinsicht stellt sich nun die Frage, wie es nach Corona weitergehen wird. Wird alles wie vorher sein, die Menschen fallen sich um die Arme, lassen die Maske weg und alles wird ablaufen wie vor einigen Monaten? 

Straßenbefragung in der Kölner Innenstadt.

Oder werden die Veränderungen durch die Pandemie in Zukunft Auswirkungen auf die Gesellschaft haben? Bezüglich eines Punktes ist sich Holger Schlageter sicher: „Auch noch nach der Krise wird die Digitalisierung sicher zunehmen und weitere Akzeptanz finden.”

Dennoch ist er der Meinung, dass die Bevölkerung den derzeitigen Maßnahmen nach der Krise keinerlei Beachtung mehr schenken wird: „Ich bin davon überzeugt, dass sobald ein Impfstoff gefunden und verteilt wurde, innerhalb von 14 Tagen alles Verhalten wieder zurückschnellt auf die Zeit vor Corona. Lediglich die Auswirkungen auf Kaufkraft und Wirtschaft werden uns eventuell zu veränderter Normalität führen.” 

Pfadenhauer nimmt hingegen an, dass das Tragen der Maske auch nach Corona teilweise bleiben wird, jedoch mit einem anderen Verständnis: „Meine Vermutung ist, dass wir zukünftig auch bei normalen Krankheiten die Masken nutzen. Die Maske könnte sich in unsere Alltagsgewohnheiten verlagern, sodass sie nie wieder so ganz verschwindet.” Ob es tatsächlich so kommen wird, das bleibe abzuwarten.

„Wir fühlen uns wie in einer Ausnahmesituation”

Doch gerade die Maske ist ein Thema, das äußerst kontrovers diskutiert wird. Nach einigen Wochen der Maskenpflicht wird sie von immer weniger Menschen ernst genommen. In den Straßenbahnen sitzen zunehmend Fahrgäste ohne Mundschutz oder tragen ihn nicht regelkonform.

Für viele Menschen bedeutete gerade die Maskenpflicht einen erheblichen Eingriff in die Normalität, vermutet Pfadenhauer.

Wir müssen Corona als Chance betrachten

Ist es also möglich, sich an Normalität zu gewöhnen? Die Serie „The Handmaid’s Tale” trifft mit dieser Frage den Puls der Zeit. Wer vor Corona noch über das Tragen einer Maske gelacht hat, packt sie nun wie selbstverständlich in seine Tasche. Abstand halten und der unterlassene Handschlag zur Begrüßung gehören jetzt zum guten Ton.

Viele Menschen haben sich an die neue Situation gewöhnt. Doch was die Entwicklung in der Zukunft zeigt, ist schwierig zu sagen. So sieht es auch Dr. Pfadenhauer. „Für uns Soziologen ist das eine spannende Zeit, denn es tun sich zahlreiche Forschungsfelder auf”, erklärt sie.

Für die Zukunft hat Dr. Schlageter eine klare Empfehlung: „Es ist nun wichtig, kein Trauma herbeizureden, sondern die Zeit im Gegenteil als Chance zu verstehen.”

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