Jeder Deutsche schmeißt jährlich im Durchschnitt über 50 Kilogramm Lebensmittel weg. Von diesen könnten viele jedoch noch gut verwendet werden. Gegen die Verschwendung von Essen versucht Nicole Kleski anzugehen – mithilfe ihres Ladens THE GOOD FOOD.
Es ist halb neun Uhr morgens, die Wolken haben sich vor die Sonne geschoben, sodass der kölsche Stadtteil Ehrenfeld in ein graues, diesiges Licht getaucht wird. Motorenlärm durchbricht die Stille, als ein silberner Van die Straße runter und anschließend die Auffahrt einer großen Lagerhalle hinauffährt. Aus dem Auto springt Lena, eine junge Frau mit blondem langem Haar, die in ein kurzes Blumenkleid und einen dicken, schwarzen Pullover gehüllt ist. Einzig ihre schwarzen Gummistiefel weisen darauf hin, dass ein Ausflug auf den Bauernhof bevorsteht. Lena arbeitet seit einem halben Jahr ehrenamtlich bei THE GOOD FOOD, einem kleinen Ladenlokal in Ehrenfeld, das ausschließlich gerettete Lebensmittel verkauft. Das bedeutet, dass es nur Lebensmittel zu THE GOOD FOOD schaffen, die in einem herkömmlichen Supermarkt aus ästhetischen Gründen nicht verkauft werden können oder die bereits abgelaufen sind. Die Gründerin des Ladens, Nicole Kleski, kämpft so gegen die Lebensmittelverschwendung in Deutschland an.
Elf Millionen Tonnen Lebensmittel landen jedes Jahr in Deutschland im Müll. Die Verluste in der Landwirtschaft sind dort noch nicht mit einberechnet. „Ich habe mich sehr darüber geärgert, wie viele gute Lebensmittel wir wegschmeißen und auch wie viele wertvolle Ressourcen wir damit verschwenden“, erzählt Nicole. So sei sie auch auf die Idee gekommen, bei der Lebensmittelrettung nicht erst im Laden anzufangen, wie die Organisation „Foodsharing“, sondern der Verschwendung gleich in der Landwirtschaft und direkt bei den Herstellern entgegen zu wirken. Seit über zwei Jahren verkauft THE GOOD FOOD diese geretteten Lebensmittel in dem kleinen Laden auf der Venloer Straße nach dem „Zahl, was es dir wert ist“-Prinzip. Kunden können mitnehmen, so viel sie wollen und dafür die Summe zahlen, die ihnen diese Lebensmittel wert sind. Die Einnahmen des Geschäfts reichen für die Bezahlung der Miete von Laden, Van und Lagerhalle sowie für eine Aufwandsentschädigung einiger fester Mitarbeiter, wie auch Nicole.
„Es gab Tage, da habe ich mich nur von Radieschen ernährt“
Lena und zwei weitere ehrenamtliche Helferinnen bauen die Rücksitze aus dem Van aus, den sich das Ladenlokal jeden Dienstag von der Sporthochschule Köln leiht. So bleibt mehr Platz in dem Auto für ungewolltes Gemüse und abgelaufene Lebensmittel, die sie im Laufe des Tages für THE GOOD FOOD einsammeln werden. Kokosnusswasser, Bio-Apfelschorle und kalte Kaffee-Getränke werden in der Seitenkonsole verstaut, um Erfrischungen zwischendurch zu garantieren. Zu Essen nehmen sie jedoch außer einer Tafel Bio-Schokolade nichts mit. Denn über den Tag hinweg sind die Ehrenamtlichen von frischem Obst und Gemüse umgeben, da wird auch gerne nebenher ein wenig probiert. „Es gab Tage, da habe ich mich nur von Radieschen ernährt“, lacht Lena und nimmt auf dem Fahrersitz Platz. Das Navi wird eingestellt, die Hip-Hop-Musik aufgedreht und schon beginnt die Tour.
Nach einer knappen Stunde Fahrt erreichen die Lebensmittelretter den ersten von vier Stopps, den Lammertzhof in der Nähe von Neuss. Dort empfängt Bauer Heiner Hannen die jungen Frauen mit einem verschmitzten Lächeln wie alte Freunde. Schließlich sind die Ehrenamtlichen von THE GOOD FOOD mindestens einmal die Woche auf dem Hof. Er erklärt ihnen genau, welche Gemüsesorten sie einsammeln, pflücken und sortieren dürfen und schon kann die Arbeit losgehen. Die Wolken haben sich verzogen und inzwischen strahlt die Sonne freundlich vom blauen Himmel. Ein Hahn kräht in der Nähe und die Vögel zwitschern – auf dem Bauernhof herrscht eine Atmosphäre, wie sie im Bilderbuche steht. Über vier Stunden lang werden ein Dutzend Kisten voller knubbeliger, zu klein geratener Kartoffeln sortiert, Spinat gepflückt und Rote Beete geerntet, denn diese Lebensmittel kann Bauer Hannen aufgrund von Form, Größe oder Konsistenz nicht verkaufen. Mit einer Kiste und einem kleinen Messer bewaffnet macht sich die ehrenamtliche Helferin Lena auf dem Feld an die Arbeit und zieht jede übrig gebliebene Rote-Beete-Pflanze einzeln aus dem Boden. „Heute Abend gibt es Rote-Beete-Salat, den liebe ich“, freut sie sich. Denn als Entlohnung für ihre Arbeit dürfen die Helferinnen von THE GOOD FOOD sich am Ende des Tages aus dem Laden mitnehmen, was sie wollen.
THE GOOD FOOD – erster Laden seiner Art
Grundsätzlich werden bei THE GOOD FOOD Gemüse und Obst, Backwaren vom Vortag und MHD-Ware verkauft, also Lebensmittel, die das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben, aber trotzdem noch genießbar sind. „Oft passiert es auch, dass das Produkt noch eine Restlaufzeit hat, diese dem Supermarkt jedoch nicht reicht, da dieser sie auch noch verkaufen muss. Dann nimmt der Supermarkt das schon nicht mehr ab. Oder das Design wird geändert. Dann wird das alte Design aussortiert und die Lebensmittel würden ebenfalls weggeworfen werden“, erzählt Gründerin Nicole kopfschüttelnd, „das ist der totale Wahnsinn für mich!“ Bisher ist THE GOOD FOOD der erste Laden in Deutschland, der Lebensmittel nach dem „Zahl, was es dir wert ist“-Prinzip verkauft. In Münster und Berlin gibt es jedoch schon Nacheiferer, die es sich mit einem eigenen Laden zur Aufgabe gemacht haben, gute Lebensmittel vor der Mülltonne zu bewahren.
Der zweite Stopp auf der Lebensmittelretter-Odyssee ist der Frischemarkt in Meerbusch „Marktliebe“. Dort angekommen fährt wie durch magische Hand das Gate am Hintereingang des Ladens hoch und über zehn Kisten voller MHD-Waren werden für die THE GOOD FOOD–Helferinnen bereitgestellt. Aus diesen wählen die jungen Frauen aus, was sie mitnehmen wollen, aussortiert wird lediglich Obst und Gemüse, das eindeutig kaputt ist. Von Sushi über Joghurt, Erdbeeren, vegetarischem Schnitzel, Lachs, Garnelen und Maracuja ist fast alles mit dabei. „Durch THE GOOD FOOD wurde ich bezüglich Nahrung sensibilisiert, besonders für die Verschwendung, weil ich auch einfach sehe, wie damit gearbeitet wird. Auch wie viel ohne Grund bei Großhändlern verschwendet und weggeworfen wird“, erzählt Lena, während sie die vollen Kisten in den Van lädt. Sie ist fast jeden Dienstag bei den aushäusigen Touren dabei, wenn sie von ihrer Arbeit das OK dafür bekommt. „Diese Tagestouren sind eine richtige Herzensangelegenheit für mich geworden; eine Möglichkeit zu haben, etwas zu tun! Das ist meine Motivation!“
Kunden so unterschiedlich wie die Produkte selbst
Nicht nur die Käufer von THE GOOD FOOD profitieren von der Rettung der Lebensmittel, auch der Supermarkt und die Produzenten haben etwas davon. Diese können sich Entsorgungskosten sparen und erhalten nebenbei ein gutes Image, mit dem sie werben können. Nicole ist sich sicher, dass sie den Laden zur richtigen Zeit eröffnet hat. Sie hat das Gefühl, dass ihr Team dazu beigetragen hat, dass Lebensmittelverschwendung so ein großes Thema geworden ist. „Ich denke, dass sich viel verändert hat und dass der Bekanntheitsgrad der Lebensmittelverschwendung und damit einhergehend auch das Thema Nachhaltigkeit an Zulauf gewonnen hat. Ich hoffe auch, dass das nicht nur ein Trend ist“, äußert Nicole. Dennoch ist ihr bewusst, dass sie sich in einer kleinen Blase befindet. An Fachhochschulen, an denen sie manchmal Vorträge hält, gibt es Leute, die von dem ganzen Thema noch nie etwas gehört haben. „Und natürlich gibt es auch Menschen, bei denen ich denke, vielleicht bist du gerade hier im Laden, weil du das auf Instagram gesehen hast und es gerade irgendwie cool ist. Aber das freut mich natürlich auch, dass wir nicht in dieser Ökotanten-Nische hängen, sondern dass wir auch Menschen erreichen, die das als hip empfinden“, erzählt Nicole. Dementsprechend sind auch die Kunden im Laden so unterschiedlich und vielfältig wie die Produkte, die THE GOOD FOOD verkauft.
„Das ist so eine Art Meditation“
Nach weiteren 40 Minuten Fahrt erreichen die Lebensmittelretterinnen den Fliestedener Obsthof, einen kleinen Obstladen in Bergheim. Der Obstladen stellt für THE GOOD FOOD regelmäßig noch gut erhaltene, große Säcke frischer Äpfel bereit. Diese könnten noch verkauft werden, der Obsthof bietet sie den Ehrenamtlichen also als Spende an. Hier wird nur ein kurzer Zwischenstopp eingelegt, die Säcke werden schnell im Van verstaut und schon wird der letzte Halt angesteuert. Als die jungen Frauen bei dem Landwirtschaftsbetrieb Gemüsekoop ankommen, ist es bereits nach 17 Uhr. Da THE GOOD FOOD um 19 Uhr schließt, muss hier unter etwas Zeitdruck zu klein geratener Kohlrabi geerntet werden. Mit der Hilfe von kleinen Küchenmessern trennen Lena und ihre beiden Helferinnen Kohlrabi-Pflanzen aus dem von der Sonne gehärteten Boden, die der Bauer von Gemüsekoop nicht verkaufen kann. Es ist eine mühselige Arbeit, doch Lena gefällt sie: „Du bist dann auch einfach total mit dir selbst, total im Stillen, das ist so eine Art Meditation. Außerdem habe ich so den direkten Bezug zu den Lebensmitteln, ich habe den Bezug zu den Bauern, da ist jetzt ein Gesicht dahinter.“
Wieder in der Stadt angekommen werden die geretteten Lebensmittel sofort in den Laden gebracht. Die Ehrenamtlichen bilden eine Kette vom Van bis zu THE GOOD FOOD und sogar Kunden packen beim Tragen der Kisten mit an. So wird im Handumdrehen ein ganzer Tag Arbeit in den Regalen des Ladens verstaut. Und dies scheint sich schnell herumzusprechen. Denn pünktlich kurz vor Ladenschluss ist THE GOOD FOOD gefüllt mit glücklichen Kunden, die sich durch die geretteten Lebensmittel wühlen und dafür zahlen, was es ihnen wert ist. Mit von der Sonne verbranntem Nacken, Dreck unter den Fingernägeln und erschöpft vom vielen Tragen machen sich Lena und ihre Mitstreiter wieder auf den Weg zum Lager. Der Van muss schließlich auch wieder nach Junkersdorf zurückgefahren werden. Die Mädchen sind kaputt, aber glücklich. Lena nimmt wieder auf dem Fahrersitz Platz, kratzt den Dreck unter ihren Fingernägeln hervor und seufzt zufrieden: „Ich glaube, man kann nicht mehr mit seinem Tag anfangen, als mit so einem Gesamtpaket wie dieser Tour!“
Die Öffnungszeiten von THE GOOD FOOD findet ihr hier.